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Zürich, Opernhaus: ATONEMENT, Ballett; 01.05.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Cathy Marston

Copyright aller Bilder: Admill Kuyler, mit freundlicher Genehmigung Ballett Zürich

Cathy Marstons abendfüllendes Handlungsballett als ihre erste Neukreation für das Ballett Zürich

Choreografie und Inszenierung: Cathy Marston | Musik: Laura Rossi (Auftragskomposition) | Szenarium: Cathy Marston und Edward Kemp, nach dem gleichnamigen Roman von Ian McEwan | Uraufführung: 28.4.2024 in Zürich | Weitere Aufführungen: 1.5. | 12.5. (zwei Vorstellungen) | 14.5. | 23.5. | 30.5. | 1.6. | 2.6. | 7.6. | 14.6. | 18.6. | 20.6. | 22.6. 2024 (zwei Vorstellungen)

Kritik: 

Schwere, schicksalsschwangere Klänge fluten den Zuschauerraum des Opernhauses Zürich, bevor sich der Vorhang zu ATONEMENT hebt. Man ahnt: Es wird Schreckliches geschehn. Der Vorhang öffnet sich und wir befinden uns mitten in einer Idylle: Ein gemalter Rundhorizont, der eine englische Landschaft darstellt mit sanften Hügeln, herrschaftlichen Häusern, gepflegten Gärten mit Tempeln und Pavillons (Bühnenbild: Michael Levine) stellt die Spielfläche für den ersten Teil dar, der wie im Roman etwa fünfzig Prozent der Handlung einnimmt. In dieser pastoralen Idylle beginnt auch der Roman von Ian McEwan, der die Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston zu ihrer ersten Choreografie für das Ballett Zürich inspiriert hat, ein Roman, der schon lange auf der Wunschliste zur tänzerischen Umsetzung der literaturafinen Choreografin gestanden hat. Die britische Komponistin Laura Rossi hat dazu als Auftragskomposition und in enger Zusammenarbeit mit Cathy Marston eine Partitur geschrieben, welche mal spätromantisch dräuen und wabern kann, dann wieder verspielt pastoral daherkommt, martialisch hämmert in Exerzierszenen und im Bombenhagel von Dünkirchen und in den intimen Pas de deux und Pas de trois und den reflektierenden Tagträumereien von Briony von kammermusikalischer Feinheit geprägt ist. Gewisse Instrumente werden Briony, Cecilia und Robbie zugeordnet, Erinnerungsmotive tauchen auf. Insgesamt hat Laura Rossi eine filmisch-musikalische Sprache für die einzelnen Szenen gefunden, manchmal etwas beliebig und zu gefällig. Aber eine Musik, die man sich gut anhören kann und in einigen Momenten das Geschehen prägnant zu erfassen vermag. Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Jonathan Lo bleibt der Komposition nichts an sprühender Farbigkeit in der Ausführung schuldig.

Gefällig ist auch die tänzerische Umsetzung der vielschichtigen Vorlage - aber leider nicht mehr. Das Szenarium, welches Cathy Marston zusammen mit ihrem langjährigen Mitarbeiter Edward Kemp für ATONEMENT erarbeitet hat, folgt dem Roman ziemlich genau. Allerdings bleiben viele Figuren und Teile der Handlung für die Zuschauer*innen, welche das Buch nicht gelesen haben, ziemlich unscharf. Marston/Kemp machen aus Briony eine Choreografin (im Buch ist sie Autorin), welche ihre grosse Schuld, nun in ihren künstlerischen Arbeiten - Choreografien - zu tilgen, zu beschönigen sucht. In der gut 50 Minuten dauernden Sommeridylle im Jahr 1935 werden wir mit allen Protagonist*innen bekannt gemacht: Giorgia Giani tanzt Briony, ein dreizehnjähriges Mädchen, altklug, besserwisserisch, vorpubertär. Giorgia Giani setzt die zuerst noch linkischen Tanzschritte des Mädchens, das sich bereits als grosse Künstlerin sieht, gekonnt um und beweist im Verlauf des Abends eindringliche Bühnenpräsenz. Ihre ältere Schwester Cecilia tanzt oft auf Spitze: Dores André verkörpert Cecilia mit ergreifender Ausstrahlung, wird zur eigentlichen Hauptperson, da Sympathieträgerin. Die Mutter der beiden, Mrs. Tallis (getanzt von Mélanie Borel), leidet vor allem unter ihrer ständigen Migräne, nimmt ansonsten wenig Anteil am Geschehen. Von erfrischender Agilität ist der Robbie von Max Cauthorne erfüllt, auch wenn ihm Marston ein etwas zu repetitives Bewegungsvokabular zugeordnet hat: Kreuzen der Beine, Purzelbäume. Auch die wichtigen Standesunterschiede zwischen Robbie und der Familie Tallis werden zu wenig klar herausgearbeitet. Verzichtet haben Marston/Kemp auf die zentrale Szene am Brunnen zwischen Cecilia und Robbie mit der zerbrochenen Vase (ebenso wie Marston in SNOWBLIND die Szene mit dem 'broken pickle dish' weggelassen hatte - Scherben auf der Bühne bedeuten wohl Unglück ...). Sehr seltsam mutet die Beziehung zwischen Robbie und seiner Mutter (Sujung Lim), der Haushälterin Mrs. Turner, an. In einer Szene auf Robbies Bett weist diese Beziehung in Cathy Marstons Auslegung beinahe inzestuöse Züge auf. Seltsam. Kein Profil erhalten die zwei Bediensteten der Familie Tallis auf dem Landsitz. Dabei hätte man doch die im Roman von den Zwillingen (Cousins von Briony und unwillige Tänzer in ihrem "Ballett£") gepiesakte Köchin zu einem die Handlung auflockernden, komischen Intermezzo machen können. Sehr farblos bleibt leider auch die Figur des reichen Schokoriegelherstellers Paul (Mlindi Kulashe erhält zu wenige Möglichkeiten, sein tänzerisches Können zu zeigen). Die Szene, in der er Lola (Ruka Nakagawa) vergewaltigt, findet verschwommen hinter einem semitransparenten Vorhang statt. Das ist erstens geschmackvoll gemacht und zweitens zeigt es, dass Briony diese Szene im Halbdunkel gar nicht "gesehen" haben kann, sondern nur in ihrer pubertären Fantasie vermeinte, es "gewusst" zu haben. Nicht zuletzt aufgrund des Briefes an Cecilia, dessen sie sich bemächtigte, als er aus Robbies Tagebuch fiel. Was in dem Brief stand, erfahren wir im Ballett von Cathy Marson nicht. Deshalb hier das Zitat aus dem Roman: In meinen Träumen küsse ich deine Möse, deine süsse, feuchte Möse. In Gedanken liebe ich dich von früh bis spät. Dieser Brief und die Aussage Brionys, in welcher sie Robbie der Vergewaltigung Lolas beschuldigt, führt am Ende des ersten Teils zur Verhaftung Robbies. Cathy Marston hat diesen Bruch, der dadurch durch die Familie geht, mit immenser Eindringlichkeit und Virtuosität choreografiert. Grosartig. Ebenfalls ragen in diesem ersten Teil der Liebes-Pas-de-Deux zwischen Robbie und Cecilia mit einfallsreichem, stimmigem Tanzvokabular und die Brionys künstlerische Ambitionen (und Talent) andeutende, angewinkelte Armhaltungen heraus, mit denen sie Bilder zugespitzter Situationen wie in einem filmisch-theatralischen Rahmen einfrieren will. Sehr klug gemacht!

Der zweite Teil beginnt mit einer Reminiszenz an Robbies Verhaftung, allerdings ist die idyllische Landschaft nun durch einen grauen Schleier verhüllt. Wir sind im Krieg. Die Tänzer*innen kommen mit Gasmasken im Ballettsaal an, Briony ist eine von ihnen. Fliegeralarm und Sirenengeheul sind eingeflochten in den musikalischen Duktus. Hinter der Ballettstange marschieren Gefangene auf. Die Männer des Corps tanzen mehr oder weniger synchron im Gefängnishof. Quasi im Zeitraffer wird der Beginn des zweiten Teils der Romanvorlage abgehandelt: Krankenschwestern tanzen auf Spitze, rollen Betten herein und hinaus, falten unter strenger Anleitung einer Oberschwester Laken, im Hintergrund erhalten die Gefangenen (darunter Robbie) Soldatenuniformen, weil sie sich als Freiwillige zum Militärdienst gemeldet haben. Schon bald müssen sie mit entblössten Oberkörpern exerzieren, um dann in der Hölle von Dünkirchen dem Bombenhagel der Deutschen ausgesetzt zu sein (oberflächliche Ästhetik). Im Buch werden sowohl die Szenen in den britischen Kriegskrankenhäusern als auch die auswegslose Situation in Dünkirchen mit aller Drastik geschildert, da müssen stinkende Bettpfannen geleert und sterbende und schwerverwundete Soldaten betreut werden - in Marstons Ballett wird auf Spitze getanzt, werden Laken dekorativ in die Höhe geworfen, gucken die Schwestern kokett zwischen den angewinkelten Beinen der Schwerverwundeten hindurch. Das wirkt wie eine Parodie von Monty Python oder eine Szene aus LITTLE BRITAIN - für mich unerträglich. Wenn dann die nun als Soldaten ausgebildeten Häftlinge an die Front ziehen, gibt's ergreifende Abschiedsszenen von ihren Freundinnen und Frauen - und in Robbies Fall von seiner Mutter - zu sehen. Wieder fällt die fast krankhafte Nähe der Mutter zu ihrem Sohn auf. In einer Vision Brionys fallen dekorativ rote Blüten (oder sind es Blutspritzer?) auf das Schlachtfeld von Dünkirchen, Cecilia tanzt im Abendkleid über das Blütenmeer und zwischen den toten Soldaten herum, findet den schwerverletzten Robbie, erweckt und erhebt ihn mit ihrer Liebe. Kurz wird noch die Hochzeit von Paul, dem Vergewaltiger mit Lola, seinem Opfer abgehandelt (Briony erkennt ihren fatalen Irrtum, das ist aber choreografisch zu wenig prägnant herausgearbeitet), dann sehen wir, wie Briony Cecilia aufsucht, Robbie bei ihr im Bett findet. Zu einem Atonement - einer Versöhnung, einem Einschwenken auf den selben Ton - kommt es nicht, in einem ganz stark choreographierten Pas de trois wird Briony gnadenlos von den beiden Liebenden ausgeschlossen. Ein grauer Vorhang fährt vorbei, wenn er weg ist, sieht man nur noch das leere Bett, dann fällt der rote Vorhang. Grosser Applaus, aber trügerisch, denn - und das ist ein veritabler Coup de théâtre - damit ist nur die Choreografie, welche sich Briony ausgedacht hatte, zu Ende, nicht aber das Stück. Hier haben Cathy Marston und Edward Kemp den Geist der Vorlage perfekt auf ihre Arbeit übertragen. In einem Epilog hören wir aus dem Off ein Interview mit der gefeierten Choreografin Briony Tallis, welche zur eben gesehenen Ballettpremiere befragt wird, dem Stück, in dem sie Gott gleich ihre Vergangenheit aufgearbeitet, beschönigt hat. Als Gipfel der Anmassung sagt Briony über die tragische Geschichte (Robbie ist in Wirklichkeit in Dünkirchen verreckt, Cecilia bei einem Bombenangriff auf eine Wasserleitung in London in der U-Bahn ertrunken): "Ich habe ihnen das Wiedersehen geschenkt, das beiden zu Lebzeiten nicht möglich war." Ganz dezent wird auch die beginnende Demenzerkrankung Brionys angedeutet, welche sich durch kleine sprachliche Aussetzer und Absenzen Brionys während des Interviews manifestiert. Auf der Bühne packen die Tänzerinnen und Tänzer unterdessen ihre Utensilien zusammen, die nun 77 jährige Briony (dargestellt von Shelby Williams) umarmt die Tänzerin der jungen Briony.

Fazit: Trotz einiger gelungener chorografischer und theatralischer Inspirationen muss ich leider doch konstatieren, dass sich nicht jeder Roman der Weltliteratur zur Ballettadaption eignet. 

Inhalt der Vorlage zum Ballett:

Ian McEwan hat mit seinem Roman ATONEMENT (Abbitte) einen Weltbestseller geschrieben und sich damit in die erste Reihe der zeitgenössischen britischen Schriftsteller katapultiert. “Ein glänzender Romancier, ein fabelhaftes Buch … ”, urteilte Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki. Im langen ersten Teil, durch den man sich stellenweise richtig durchkämpfen muss, wird ein Sommer auf einem englischen Landgut im Jahre 1935 geschildert. Im Zentrum steht dabei die Gefühlslage der 13-jährigen Briony, einem altklugen Teenager, die sich als grosse Schriftstellerin wähnt. In einer Mischung aus sexuellem Erwachen und Eifersucht beschuldigt sie fälschlicherweise den Freund ihrer Schwester Cecilia, Robbie Turner, Sohn der Zugehfrau, der Vergewaltigung ihrer Cousine Lola. Robbie kommt auf Grund ihrer Falschaussage ins Gefängnis; nur Cecilia und Robbies Mutter glauben an seine Unschuld. 

Im zweiten Teil des Romans befinden wir uns mitten im Desaster von Dünkirchen, wo die britische Armee, von den Deutschen eingekesselt, in einer chaotischen Evakuierung den Kontinent verlassen muss. Robbie ist als Freiwilliger in die Armee eingetreten und konnte so seine Gefängnisstrafe abbrechen. Cecilia lässt sich zur Krankenschwester ausbilden und hat Robbie versprochen, auf ihn zu warten. Es bleibt vorerst offen, ob sich Robbie aus der Hölle von Dünkirchen retten konnte.

Im dritten Teil treffen wir wieder auf Briony, die unterdessen zu einer jungen Frau herangereift ist und ihr Fehlverhalten von damals zu korrigieren sucht. Sie arbeitet in einem Londoner Krankenhaus. Durch die Pflege Schwerstverwundeter und Traumatisierter hofft sie, ihre schlimme Tat sühnen zu können. Heimlich schleicht sie sich zur Hochzeit ihrer - damals auf dem Landgut vergewaltigten - Cousine Lola mit Paul Marshall, einem durch den Krieg reich gewordenen Schokoladenriegel-Hersteller, der im verhängnisvollen Sommer 1935 auch auf dem Landgut anwesend und von dem Briony nun überzeugt ist, dass er der Täter war. Briony gesteht ihrer Schwester gegenüber in einem Brief ihre Schuld ein und verspricht alles zu unternehmen, um ihren Fehler richtigzustellen. Briony findet aber nicht die Kraft, Lola und Paul dazuzubringen, die Sache selbst klarzustellen und damit Robbie endgültig zu entlasten. Sie sucht ihre Schwester auf. Überraschend trifft sie Robbie bei ihrer Schwester an. Die beiden können Briony nicht verzeihen. Briony nimmt sich vor, mehr zu unternehmen, als bloss einen Brief zu schreiben. Am Ende des dritten Teils steht BT 1999. BT sind ihre Initialen, Briony Tallis. Und der Leser ahnt bereits, dass dieser dritte Teil frei erfunden war.

Im vierten, ganz kurz gehaltenen Teil des Romans befinden wir uns im Jahr 1999. Jetzt haben wir Gewissheit. Der dritte Teil war Roman, war die Abbitte für ihre immense Schuld, welche sie für ihre Falschaussage als Pubertierende auf sich geladen hatte. Das Leben zweier Menschen und dasjenige der betroffenen Familien hatte sie aus selbstgefälligen, wichtigtuerischen Gründen unwiderbringlich zerstört. Sie ist nun 77, leidet an beginnender Demenz. Wir erfahren, dass sie als Schriftstellerin sehr erfolgreich war. Beim Einschlafen nach der Geburtstagsfeier auf dem Landgut, bei der einige Verwandte zugegen waren, die 1935 als Kinder schon den Sommer bei Familie Tallis verbracht hatten, sinniert Briony über Abbitte und Absolution und überlegt, ob sie den Roman glücklich enden lassen sollte, indem Robbie und Cecilia Hand in Hand an ihrem Geburtstagsfest auftauchen.

2007 wurde ATONEMENT von Joe Wright verfilmt, mit u.a. Keira Knightley (Cecilia), James McAvoy (Robbie), Benedict Cumberbatch (Paul Marshall) und Vanessa Redgrave (Briony, 77). Der Film bekam zwei Golden Globes.

Der britische Komponist Michael Berkeley schrieb eine Kammeroper mit dem Titel FOR YOU, welche ebenfass auf McEwans Roman ATONEMENT basiert.

Cathy Marston nun legt für Zürich in Koproduktion mit dem Joffrey Ballet Chicago ihre Version von ATONEMENT vor. Sie verlegt die Handlung in die Ballettwelt, wo eine gefeierte Choreografin die Verfehlungen ihrer Jugend in Tanzstücken verarbeitet. Die Partitur zum Ballett komponierte Laura Rossi im Auftrag des Opernhauses Zürich. Laura Rossi erhielt viel anderkennung und Auszeichnungen für ihre Musik zu Stumm - und Fernsehfilmen, schreibt aber auch für den Konzertsaal.

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